Erste Berichte über die ‘Ndrangheta

„Das ist so ungefähr wie der Wilde Westen, nur dass es hier nicht einmal einen Sheriff gibt“ – so kommentiert die Tageszeitung „La Repubblica“ den Mafiakrieg in Kalabrien, der südlichsten Region auf dem italienischen Festland.


Mindestens 15 verschiedene Familienclans beherrschen die Regionshauptstadt Reggio di Calabria und die umliegenden Orte. Die kalabrische Mafia hat einen eigenen Namen: ‘Ndrangheta . In Sizilien nennt sie sich Cosa Nostra, in Neapel Camorra, aber Gewalt, Machtausübung und vor allem die Geschäfte sind überall gleich. Rauschgifthandel, Korruption und noch ein kleines Zusatzgeschäft wickelt die `Ndrangheta hin und wieder ab: Entführungen. Dazu eignet sich besonders gut das gebirgige Hinterland von Reggio di Calabria, der berühmt-berüchtigte Aspromonte, zu deutsch rauer Berg. Hier versteckte Geiseln sind unauffindbar. Lösegeldforderungen werden garantiert erfüllt, befindet sich das Opfer erst einmal in der Gewalt der ´Ndrangheta.


Die derzeitigen blutigen Auseinandersetzungen unter den Clans haben auch nur einen einzigen Hintergrund, nämlich das Geschäft. Seien es die Verkaufsbezirke für Rauschgift oder Griff nach öffentlichen Geldern – Sieger ist, wer seine Gegner ausschaltet. So auch in dem südlich von Reggio gelegenen Ort Pellaro. Wo die Clans der Chilà und der Ligabo herrschen. Als der Nachbarclan die Nase nach Pellaro streckte gab es jede Menge Tote. Die Eindringlinge aus dem Ambrogio-Clan wurden gleich Dutzendweise eliminiert. Und was war der Grund? – Die öffentlichen Bauaufträge für ein zweites Bahngleis von Reggio Richtung Süden. Da fragt man sich dann, warum Staat und Polizei dem organisierten Verbrechen nicht beikommen. Eine der Antworten ist, dass Vertreter des Staates selbst oft genug in dunkle Geschäfte mit der Mafia verwickelt sind.


Im Fall des doppelten Bahngleises waren es zwei städtische Beamte, drei Privatunternehmer und fünf Angestellte der staatlichen Eisenbahngesellschaft, die gemeinsame Sache mit der Mafia machen wollten. Die Clans nützen für ihre Machtentfaltung vor allem die sozialen Verhältnisse des Südens. Bei einer Arbeitslosenquote von bis zu 20 Prozent kontrollieren die Clans jede Art von Greschäft. Nur wer sich ihnen unterordnet kriegt einen Job und muss dafür als Gegenleistung auch mal Dienste für die Mafia leisten. In Reggio di Calabria mit seinen 170000 Einwohnern hängt jeder Dritte, vielleicht sogar die Hälfte der Bevölkerung mit der Mafia zusammen oder von ihr ab.


Der Polizei fehlen viele Mittel, die es ihr ermöglichen würden, irgendwelchen Spuren nachzugehen. In der Stadt fehlen zum Beispiel fast überall Straßenschilder und Hausnummern. Adressen sind deshalb schlichtweg nicht aufzufinden und das Befragen der Nachbar ist in Süditalien völlig nutzlos, wo aus Tradition das Schweigen mehr als Gold, nämlich das Überleben bedeutet. Schon wegen geringerer Dinge als ein Richtungshinweis auf der Straße sind Menschen von der Mafia erschossen worden. Wie etwa ein 22jähriger, der in dieser Woche seinen Wagen reparieren lassen wollte gerade in dem Moment, als Killer die Werkstatt eines Clangegners stürmten und neben dem Mechaniker als designiertes Opfer auch gleich noch den ahnungslosen Kunden beseitigten. Das alles direkt neben einer Grundschule, wo Kinder zwischen sechs und zehn Jahren Augenzeugen des Blutbades wurden. Die Lehrer griffen daraufhin zu einer ungewöhnlichen Therapie.


Damit die Kinder das Erlebte verarbeiten konnten schrieben sie kleine Aufsätze über das was sie gerade gesehen hatten. Und die wurden daraufhin in ganz Italien als Protest gegen das Massenmorden veröffentlicht. Sechs Tote gab es in Reggio innerhalb der letzten 24 Stunden, 130 seit Jahresbeginn. Reggio di Calabria hat eine ähnlich hohe Mordrate, bezogen auf die Bevölkerung – wie New York.

Dezember 1988, Karl Hoffmann

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