Lahme Justiz

Die lahmgelegte italienische Justiz


Für jeden fünften römischen Bürger hat die Viale Giulio Cesare , einen häßlichen Klang, die nach dem römischen Kaiser benannte Allee ist alles andere als eine angenehme Adresse. Hier befindet sich das römische Zivilgericht. Hier kommt alles zusammen, was einen Kadi benötigt: der Streit um die Erbschaft, die Scheidung, der Zank mit den Nachbarn , die Schadenersatzforderung und die Beleidigungsklage.


Viale Giulio Cesare 45. Jeden Morgen gehen Tausende von Bürgern schweren Herzens durch die Pforten des alten Baus, um sich im Labyrinth einer völlig überforderten Justiz zu verlieren. In einem Flügel treffen sich die Scheidungskandidaten, die zu Dutzenden von einem desinteressierten Richter abgefertigt werden, der in Minutenschnelle die vorgeschriebene, aber völlig nutzlose Frage nach einer möglichen Versöhnung abwickelt. In einem anderen Zimmer ein riesiger Aktenstapel, ein Richter, der an diesem Morgen 40 Zivilklagen abzuwickeln hat in einem Durcheinander, das unbeschreiblich ist.


Weil in den gewaltigen Papierhaufen nichts an Ort und Stelle ist, müssen viele Verfahren immer wieder vertagt werden. 2,7 Millionen Einwohner hat die Stadt Rom, 300.000 Verfahren sind alleine beim Zivilgericht , dem sogenannten Tribunal, sowie bei Untergerichten, den Präturen anhängig. Weil praktisch kein Verfahren in der ersten Instanz beendet wird, sondern mindestens eine zweite durchläuft, steigt die Zahl der noch ausstehenden Richtersprüche auf 600.000 und betrifft, statistisch gesehen 20 Prozent der Bevölkerung. Und zwar auf viele Jahre hinaus. Viele der Verfahren, die jetzt gerade in Gang gekommen sind, werden keinesfalls vor dem Jahr 2010 zu Ende gebracht werden.


Die niederschmetternde Langsamkeit der Justiz bringt mehr und mehr brave Bürger dazu, auf ihnen zustehendes Recht zu verzichten, einen Verlust hinzunehmen und dafür die Mühen und auch die Kosten eines jahrzehntelangen Verfahrens zu umgehen. Dem Unrecht öffnet die paralysierte Justiz weit die Tore. Wer schlau ist und genügend Durchhaltevermögen hat, kommt auf seine Kosten: zum Beispiel die Versicherungen. Sie handeln zäh um Entschädigungszahlungen, weil sie wissen, dass kaum einer mehr vor Gericht zieht, um sein Recht zu bekommen. Vor den Arbeitsgerichten stehen die Rechtsuchenden ebenfalls Schlange, in Rom sind 41 Richter für 70.000Klagen zuständig. Wartezeit: mindestens acht Jahre.


In den Strafgerichten sieht es noch schlimmer aus: dreieinhalb Millionen Verfahren haben sich angehäuft. Die massive Korruptionsaufklärung und auch die Erfolge im Kampf gegen die Mafia haben die Gerichte zusätzlich belastet. Vor allem aber sind es kleine Delikte, die oft mit großem Aufwand verhandelt werden müssen und das komplizierte Verfahrensrecht absolut lahmlegen. Jüngst hat auch noch ein Entscheid des Verfassungsgerichts für einen Aufschrei unter den Richtern geführt: in den unterschiedlichen Instanzen müssen unterschiedliche Richter tätig sein. Eine ganze Reihe von Prozessen wurden mit einem Schlag ungültig, wie etwa der Mordprozess gegen Giulio Andreotti, der jetzt erst wieder neu aufgenommen werden konnte.


Der ehemalige Ministerpräsident hat eine berechtigte Sorge. Dass er nämlich das Ende seines eigenen Verfahrens nicht mehr miterleben könnte. Schließlich ist er bereits 77.


Juli 1996

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