
Kiloweise Literatur
Italien hat eine heilige Kuh geschlachtet, zu Markte getragen und kiloweise vermarktet. Das Buch.
Ehedem Hort des Wissens und der Geheimnisse, über dessen Preis man entweder nicht sprach oder auf dessen Kauf gleich ganz verzichtete, wird in Italien zehn Tage lang angeboten wie frisches Gemüse. Was ist teuerer? Ein Kilo Spargel oder ein Kilo Shakespeare? – eine Frage, deren Antwort plötzlich Menschen interessiert, die bisher einen Buchladen nur aus respektvoller Entfernung betrachtet haben. Verdoppelt hat sich der Umsatz, schwärmt Romano Montrone, der Geschäftsführer der Buchladenkette Feltrinelli direkt am Fuße von Bolognas berühmten zwei schiefen Türmen. Und, so sagt er weiter, ständig kommen Leute, die wissen wollen, was das denn für Bücher seien, die man kiloweise kaufen kann.
Ungefähr 5000 Taschenbuchtitel kann der Käufer auf die Gemüsewaage in den Buchläden legen, nicht nur bei Feltrinelli, sondern bei allen grossen Verlagsfillialen, Mondadori und Rizzoli. Alle wollten sie ausprobieren, ob sich Bücher mit einer alternativen Vermarktung nicht besser an den Mann bringen liessen. Dabei handelt es sich keinesfalls um eine Art Sommerschlussverkauf alter Ladenhüter. Pro Kilo gibt es 20 Prozent Rabatt, das ist nicht gerade viel, wenn man es mit dem Ausverkauf in Deutschland vergleicht. Der Erfolg der Aktion, die diese Woche zu Ende geht gründet sich vielmehr auf einem der grundlegeneden Persönlichkeitsmerkmale der Italien: dem Spiel und dem Spaß am Neuen. Plötzlich will auch die Casalinga, die vielbeschäftigte Hausfrau wissen, ob nun John Le Carré, Erica Jong oder Konrad Lorenz mehr Gewicht haben.
Daß Tacitus mit seinen Annalen ein rechtes Schwergewicht ist, das weiß der sonst wenig belesene Durchschnittsbürger nun auf einen Blick – auf die Waage nämlich. Und mit Stolz mag manchen Italiener die Tatsache erfüllen, dass Dantes Göttliche Komödie der größte Brocken im Angebot ist, noch ein paar hundert Gramm schwerer als Tolstoi, der je nach Werk und Ausgabe bis zu einem halben Kilo auf die Waage bringt.. Inge Feltrinelli, Mailänder Verlegerin hatte sich vorsorglich auf Proteste seitens der Kulturwächter eingestellt: irgendeiner wird wohl was auszusetzen haben, denn Bücher seien hierzulande ja heilig, meinte sie in ihrem Urlaubsdomizil auf Sardinien. Doch so heiß wie der diesjährige Sommer wurde die Diskussion am Ende dann gar nicht.
De Schriftsteller Alberto Moravia etwa erklärte nur lapidar: Da habe ich nichts dagegen, Ich habe schließlich 35 Bücher geschrieben. Die bringen ganz schön was auf die Waage.
August 1988, Karl Hoffmann
