
Faule Raupen
Dottore Giuseppe Trevisan versteht die Welt nicht mehr. Seit 38 Jahren kümmert er sich um Seidenraupen und immer folgten seine Lieblingstierchen dem Lauf der Natur.
ber nun, in den letzten Tagen, spinnen sie. Das heißt, sie spinnen eben nicht. Dottore Trevisan, Experte für die Kultur der Seidenraupen weiß sich keinen Rat mehr. Die 20 Millionen italienischen Seidenraupen streiken aus unerfindlichen Gründen – nicht nur ein paar in der Poebene oder einige andere in der Toskana – nein, aus dem ganzen Land vom Veneto bis nach Sizilien erhält der Raupenprofessor niederschmetternde Nachrichten. Die Larven der Seidenspinner, die sich vor kurzem zum letzten Mal gehäutet haben, müssten schon längst damit begonnen haben, ihren Faden zu spinnen, aus dem später die Rohseide gewonnen wird. Aber die Larven denken offensichtlich gar nicht daran, sich an die Arbeit zu machen und das feine Fädchen zu produzieren, das zwei bis drei Kilometer lang wird und den Kokon bildet, in dem sich die Larve dann weiterentwickelt.
"Sind die Seidenraupen durchgedreht?“, fragt sich der Dottore Trevisan, der die gesamte Seidenraupenkultur Italiens in Gefahr sieht, und zwar just in einem äußerst delikaten Augenblick. Eigentlich hat die Herstellung von Seide in Italien eine lange Tradition. Beinahe jeder Kleinbauer züchtete in früheren Zeiten ein paar dieser kleinen Tierchen, die, wenn sie schlüpfen, etwa 4 Millimeter klein sind und ihr Gewicht in kürzester Zeit ums 9000fache vermehren bis sie 7 bis 8 Zentimeter groß sind. Die einzige Nahrung, die die Seidenraupen akzeptieren, sind die Blätter des Maulbeerbaumes, von denen es auch heute noch jede Menge in Italien gibt. Aus wirtschaftlichen Gründen ging die Seidenraupenzucht im Land immer mehr zurück.
Noch während des ersten Weltkrieges wurden 5 Millionen Tonnen Rohseide gewonnen. Heute sind es nur noch ganze 15 Tonnen. Aber die Seidenherstellung würde sich wieder lohnen, weil die Lieferungen aus dem Fernen Osten nicht reichen. China hat jüngst die Ausfuhr beschränkt. Ein neuer Markt also für italienische Rohseide - und ausgerechnet jetzt spielen die Raupen nicht mehr mit. Dottore Trevisan forscht unermüdlich, woran es liegen könnte.
Unglücklicherweise hat selbst er keinen blassen Schimmer. Die Larven fressen stets begierig ihr Futter. Die großen grünen Blätter des Maulbeerbaumes haben also keine Schuld. Die Umweltverschmutzung, das Wetter oder gar die Regierungskrise - scherzhaft gesprochen? Möglich ist alles, auch, dass die Eier, die aus China und Japan importiert wurden, einen Defekt hatten.
Auf jeden Fall hängt Italiens Zukunft als Produzent von Rohseide an einem seidenen Faden.
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Mai 1989, Karl Hoffmann
